Lesung am 15.04.2005 (11. Klassen)
Dieser junge Dichter Matthias Kneip ist nicht nur ein viel versprechender Sprachkünstler, sondern auch ein Mittler zwischen der deutschen und polnischen Kultur, was, bedingt durch seine Herkunft, sein Studium und seine Arbeit am Deutschen Polen-Institut in Darmstadt, einen großen Teil seines Schaffens ausmacht. Er ist einer der wenigen Schriftsteller, die in deutscher und polnischer Sprache Lesungen zweisprachig in beiden Ländern anbieten.
In seinen beiden Veranstaltungen vor Schülern der 11. Klassen am Werner-von-Siemens-Gymnasium in Weißenburg, die mit dem Titel „Lyrik mal anders“ schon deutlich Neugier wecken konnten, gelang des dem Autor Matthias Kneip, sein junges Publikum auf eine facettenreiche Lesereise durch sein Werk und damit durch unterschiedliche Sichtweisen von menschlichen Erfahrungen mitzunehmen. Gleichzeitig konnte er damit den Zugang zu seinen Gedichten, ja vielleicht zur Lyrik überhaupt eröffnen. Ausgehend von den eigenen, nicht sehr positiv geprägten Erinnerungen über den Umgang mit Gedichten in seiner Schulzeit lädt er die jugendlichen Zuhörer ein, bereit zu sein, bei der Begegnung mit lyrischen Texten nicht nur das „Erdgeschoß“ eines Werkes zu betreten, sondern sich auch in höhere Etagen des Verständnisses vorzuwagen. Als Beispiel für diese unterschiedlichen Verstehensebenen führt er recht anschaulich sein „Gedicht über eine Katze“ an, das mit den schönen Versen „aber wenn ich die Augen schließe/ bist du bei mir“ endet. Als dieser Text in einer renommierten Zeitung erschienen war, erreichten ihn geradezu exemplarisch ideal zwei Leserbriefe, die verdeutlichten, dass man dieses Gedicht tatsächlich als Hymne an eine Katze (Erdgeschoß) oder als Gedicht an eine Geliebte (höhere oder auch tiefere Ebene) verstehen kann. Kneip will den Analytiker und Interpreten eines Textes mit einem Arzt gleichsetzen, der sich auch nicht mit der oberflächlichen Betrachtung eines Menschen abfinden kann, wenn er etwas über dessen Befindlichkeit aussagen will. Zur fruchtbaren Interpretation will auch der junge Schriftsteller seinen Beitrag leisten, indem er klar strukturierte und verständliche Texte schafft, die nicht zu verschlüsselt sind. Sein Vorgehen bezeichnet er eher als intuitiv, er kann und will nicht wie etwa Peter Rühmkorf wochenlang an einem Gedicht arbeiten. Auch von Dichtern streng hermetischer Lyrik wie Paul Celan setzt er sich dabei bewusst ab. Mit biographischen Anekdoten gewürzt führt Matthias Kneip den literaturtheoretischen Diskurs weiter, indem er ausgehend vom 8. März - wer es bis jetzt nicht wusste, es ist der Internationale Frauentag, der in Polen besonders gefeiert wird – sein Gedicht über die „Frauen“ als geradezu idealtypisches Paradigma für die unterschiedlichen Sichtweisen und Interpretationsmöglichkeiten von Lyrik vorstellt. Gerade die letzte Strophe, die eine glückliche Existenzmöglichkeit der Frauen von der Liebe der Männer abhängig macht, erregte z.B. in Polen keinen Widerstand, prallte aber in Deutschland auf den offenen Widerspruch selbstbewusster Frauen. Hiermit konnte der germanistisch gebildete und promovierte Autor den Schülern aufzeigen, wie abhängig die Interpretation von Texten von der Perspektive und der Erfahrung der jeweiligen Leser ist. Als krasses Gegenbeispiel könne man Kochrezepte nehmen, deren Aussage (doch meist) eindeutig sei. Ein Gedicht sei dagegen wie ein Rohdiamant, der so zurückleuchte, wie der Betrachter sein Licht in sich aufzunehmen bereit und fähig sei. Vorzüglich gelang es dem Autor, die sehr interessierten Zuhörer mit Wortwitz, ironischen Wortspielen, polnischem Zwiegespräch mit einem Schüler und sprachlichen Kunststücken zum Denken anzuregen und gleichzeitig zu unterhalten, sodass eine begeisterte Atmosphäre entstand. Dazu trugen auch so lakonische Stellungnahmen auf die Frage, warum sein Männergedicht so kurz geraten sei, ebenso bei wie der Bezug zu dem populären Film „Karate Kid“ im Zusammenhang mit dem Erlernen der Versmaße oder die kritische Kommentierung aktueller, unfreiwillig komischer Zeitungsanzeigen. Besonders geschickt verstand es Kneip, mit seinem Gedicht über Michael Jackson („man in the mirror“) Spannung zu erzeugen, indem er es zuerst ohne Hinweis auf die betroffene Figur vortrug, also ohne dem Zuhörer „die Türklinke in die Hand zu geben“. Mit seinen nachgeschobenen Informationen und Hilfestellungen konnten die Schüler dann Wesentliches aus dieser Collage herausfiltern. Liebeserklärungen an die Schokolade (du bleibst jung/weil du süß bist/ und geliebt wirst), den Teddybär (Reaktion: Mei wie süß!), an Mama (tiefes, echtes Gefühl), an die Lyrik überhaupt und wortspielerische Aphorismen schlossen seinen Vortrag ab. Dabei konnte anhand der Doppeldeutigkeit der Ausdrücke „verführt“ und „versprochen“ noch einmal beispielhaft die geistreiche Sprachartistik des Wanderers zwischen zwei Kulturen bewundert werden. Wir wollen mit ihm hoffen, dass er sich beim „Eheversprechen“ nicht wirklich oder doch ehrlich „versprochen“ hat und die „Verführung“ zur Lyrik noch lange anhält. Weitere Informationen zu Dr. Matthias Kneip finden Sie auf der Internet-Seite des Autors. Weißenburg, den 15.4.2005 Ursula Bittl-Margraf
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