Goethes „Urfaust“

    Folgender Artikel erschien am 17.02.2025 im Weißenburger Tagblatt:

    Erkenntniswahn, Glückssuche und Kindsmord

    Michael Jacques Lieb bot Schülern der Q12 Goethes „Urfaust“ in der Mensa

    Goethes „Faust“ hat es mittlerweile schwer in bayerischen Klassenzimmern: Vom Lehrplan als Pflichtlektüre gestrichen, nur noch selten gelesen, in sperriger Versform geschrieben – so schleppt sich das bedeutendste und meistzitierte Drama der deutschen Literatur wie ein Relikt aus längst vergessenen Zeiten durch die Gymnasien. Dennoch wollte die Fachschaft Deutsch am Werner-von-Siemens-Gymnasium das Stück nicht untergehen lassen und lud nach mehrjähriger Pause wieder Michael Jacques Lieb nach Weißenburg. Dieses Urgestein des Einmann-Theaters präsentierte den Zwölftklässlern einen verstörend lauten, zugleich aber melancholisch-emotionalen „Urfaust“.

    Diese frühe Fassung des Stoffes schrieb Goethe bereits 1775 und damit in seiner Sturm und Drang-Phase. Sie wirkt roher und ursprünglicher und enthält noch mehr Textpartien in Prosa als der spätere klassische „Faust“. Auf den Stoff stieß der junge Goethe durch die Hinrichtung der Kindsmörderin Susanna Margarete Brandt in Frankfurt im Jahr 1772. Sie gab ihm das Modell für sein Gretchen in der Faust-Tragödie. Das Drama thematisiert die menschliche Begrenztheit und das Streben nach Wissen und Glück, aber auch die Konsequenzen von Macht und Verantwortung – und die Schuld, die Faust auf sich lädt, als er Gretchen verführt und in ihrer Schwangerschaft alleine lässt.

    Wenn man als Schauspieler, Lehrer, Improvisateur und Klinikclown wie Lieb diesen Stoff alleine bewältigt, so muss man alle Rollen zugleich spielen: vom Helden Faust über den Antagonisten Mephisto, die Nachbarin Marthe, den fahrenden Scholasten und die trinkfreudigen Studenten bis hin zum jungen Gretchen. Und natürlich stellt sich das Problem, den umfangreichen Text zu memorieren, und das ganz ohne Stichpunkte für den Sprecheinsatz. Bei der Aufführung unterlief Lieb, der das Stück zum ersten Mal seit drei Jahren wieder aufführte, dann tatsächlich ein Texthänger, zu dem er sich aber ehrlich bekannte und spontan eine kleine Pause einschob.

    Dass ihm die Schülerinnen und Schüler dies nicht übelnahmen, sondern seine mnemotechnische und schauspielerische Leistung mit viel Beifall honorierten, motivierte das Multitalent aus Grafing bei München. So gerieten die 20 beeindruckenden Szenen des „Urfaust“ zu einem Erlebnis für die Sinne. Gebannt lauschten die Schüler in der Mensa, die kurzerhand zur Bühne umfunktioniert wurde, den Worten und Taten des Akteurs, den teilweise akrobatischen Vorführungen des Mimen, aber auch den stillen Momenten voller Melancholie und Verzweiflung. Zum Rollenwechsel genügte oft schon eine Änderung der Stimme, ein neues Accessoire, eine neu aufgesetzte Miene: Schon tobte nicht mehr der verzweifelte Faust, der unbedingt in Gretchens Kammer eindringen möchte, sondern saß ein aufgewühltes Gretchen am Spinnrad und dachte über das eben Erlebte nach.

    Und Michael Jacques Lieb ist dafür bekannt, dass er auch die Schüler und anwesenden Lehrer aktiv in seine Vorführung mit einbezieht. Dies tat er auch diesmal wieder, wenngleich es sich inzwischen in Schülerkreisen herumgesprochen hat, dass man besser nicht in der ersten Reihe sitzt, wenn man zu schüchtern für eine spontane „Performance“ mit dem Meister ist. Daher holte sich Lieb seine Schauspielpartner aus der zweiten und dritten Reihe, goss ihnen in der Szene Auerbachs Keller Wein (Traubensaft) in Gläser, beurteilte die Frisuren einiger männlicher Schüler fachmännisch und zog sich diesmal eine Lehrerin als „Gretchen“ aus den Reihen, die er mit den bekannten Worten durch die Galerie führte: „Schönes Fräulein, darf ich’s wagen, Arm und Geleit ihr anzutragen?“

    Und trotz des Texthängers überzeugte Michael Jacques Lieb sein junges Publikum mit seinem Improvisationstalent und seiner schauspielerischen Flexibilität. Als Bühne nahm er sich den gesamten Raum vor, zwischen und hinter den Stuhlreihen und nutzte diesen auch bis auf den letzten Quadratmeter: Er hetzte und spazierte, schmeichelte und brüllte, kokettierte und verzweifelte, klagte und resignierte, denn Faust sucht ja bekanntlich, „was die Welt im Innersten zusammenhält“ – und kennt dabei keine Grenzen. Untermalt wurde das Ganze musikalisch und durch viele Requisiten. Die Schüler spürten: Dieser „Faust“ zog nicht als einsamer klassischer Stoff an ihnen vorbei, sondern sprach sie an, reizte und irritierte. Am Ende gab es dann den hochverdienten Applaus.

    Robert Luff